Viele von diesen Ergötzlichkeiten sind auch in Cannstatt bei dem bekannten Volksfest eingeführt, welches zu Ehren des verstorbenen Königs von Württemberg, der es gestiftet hat, stets am Tage nach dessen Geburtstag, am 28. September, stattfindet. Nur wenn dieser auf einen Sonnabend fällt, wird es auf den nächstfolgenden Montag verlegt. Wenige „verordnete“ Feste modernen Ursprungs können sich rühmen, so echt volkstümlich geworden zu sein, wie dieses Volksfescht in Cannstatt. Aus allen Teilen Württembergs kommen die Bewohner in ihren Feiertagstrachten zu Wagen und zu Fuß, mit Eisenbahn und Omnibus dazu herbei, und wer das deutsche Volk vom Odenwald und Seewald, aus dem Schwarzwald und der Rauen Alp, von der Donau und dem Neckar vereinigt sehen, wer den schwäbischen Dialekt in allen seinen Mundarten und Verschiedenheiten hören will, der darf nur Cannstatt zur Zeit seines Festes besuchen.
Gibt es auch nicht eigentlich eine Nationaltracht in Württemberg, so hat doch jede Gegend ihre eigentümlichen Abweichungen in der Kleidung, wie der Schwarzwälder, der Älpler, der Steinbacher, der Baarer. Am größten ist die Verschiedenheit in Neuwürttemberg. Selbst der Anzug der Protestanten und Katholiken ist nicht gleich. Hauptgegenstände der Tracht des württembergischen Landmanns sind bei den Männern ein dreieckiger Hut über dem glatt gekämmten Haar, wohl hier und da noch ein Kamm darin, ein Kittel mit blinkenden Metallknöpfen, Schnallenschuhe, bei den Weibern Mieder, kurze Röcke, rote oder weiße Strümpfe, hohe Hacken und lang herab hängende, mit Bändern durchflochtene Zöpfe. Mit dem frühesten Morgen strömt ganz Stuttgart hinaus zum „Feschte“, denn nicht beim Feste gewesen zu sein, gilt für ein persönliches Unglück. Der herrliche Park mit seinen schönen Alleen, welcher sich vom königlichen Schlosse bis fast nach Cannstatt hinzieht, belebt sich mit Reitern und Reiterinnen auf leichten und zierlichen Pferden arabischer Abkunft, wie sie in den württembergischen Gestüten gezogen werden, elegante Equipagen fahren neben und hinter Mietswagen, und die eigentliche Straße von Stuttgart nach Cannstatt gleicht einem ununterbrochenen Zuge von Fuhrwerken aller Art, der sich zwischen den zur Tierschau bestimmten Ochsen, Kühen, Schafen und Schweinen, mit ihren Treibern und Treiberinnen und zwischen den dicht gedrängten Reihen der Fußgänger nur mühsam und langsam fortbewegt. Schon von der bei Cannstatt über den Neckar führenden Brücke, die mit Fahnen und Festons geschmückt ist, gewinnt die Straße ein festliches Ansehen. Die Stadt selbst in ihrer anmutigen Lage am Neckar, ringsum von Hügeln eingeschlossen, die zum Teil prächtige Villen des Königs und des Kronprinzen auf ihren Gipfeln tragen, ist auf das Schönste verziert. Unzählige Kränze und Guirlanden hängen quer über die Straßen, an den Häusern und selbst an den Dächern der kleinsten Hütten über den Winterbehängen von Maiskolben. Fahnen wehen von den Thürmen, über den Thoren und aus den Fernstern aller öffentlichern Gebäude und Wirtshäuser. Zum Festplatz, dem Wasen, führt eine höchst geschmackvolle Ehrenpforte aus Nadelholz, Früchten und Ähren, an welcher Figuren und Namenszüge aus Blumen und Maiskörnern angebracht sind, und auf dem Platze sind verschiedene Tribünen und Gallerien für den Hof, die Preisrichter, die Musik und die unzähligen Zuschauer errichtet, welche das Rennen und die Tierschau mit ansehen wollen. Reiter und Pferde sind aufs Schönste geputzt, alle Tiere, die zur Viehausstellung gebracht werden, mit Blumen und Bändern geschmückt.
Ist Tierschau und Pferderennen vorüber, drängt sich Alles an das eine Ende des Platzes, wo die Volksspiele anfangen. Eine hohe Stange, auf welcher an einem Holzreifen Tücher, Messer, Hosenträger und dergleichen hängen, ist zum Klettern bestimmt, und ein Junge nach dem anderen versucht vergeblich sein Glück, bis es endlich einem gelingt, den Reifen zu erreichen. Unter dem Jubel der Umstehenden wählt er sich einige Preise und klettert dann vergnügt wie ein König mit seinen mühsam erworbenen Schätzen wieder herab.
An einer anderen Stelle ist zur großen Belustigung der Zuschauer ein Sackrennen oder ein Hosenlaufen veranstaltet, und die Wettläufer stehen entweder in engen Säcken, die ihnen am Hals zugebunden werden, oder paarweise in Hosen, von denen einer das rechte Bein, der andere das linke angezogen hat, so dass ein Beinkleid zweien dienen muss und um die Lenden beider festgeschnallt wird. Bei dem ersten Fall kann man eigentlich nicht laufen, sondern nur hüpfen oder springen und zwar mit beiden Füßen zugleich, und wer dabei fällt, kann sich allein nicht mehr aufrichten, sondern muss so lange liegen bleiben, bis das Wettspiel vorüber ist, d.h. alle Sackspringer das ausgesteckte Ziel erreicht haben.
Beim zweiten Fall ist zwar das Laufen möglich, doch müssen die verschiedenen Paare gleichen Schritt halten, sonst hemmen sie sich oder fallen zum Gelächter aller hin und müssen dann auf jede Prämie Verzicht leisten.
Mitunter findet wohl auch ein Laufen mit Schubkarren statt, auf deren jedem drei länglich runde Holzpflöcke liegen, die natürlicher Weise bei schnellem Fahren leicht herabfallen und immer wieder aufgehoben werden müssen.
Wer des Zuschauens müde, begibt sich, um für seine leiblichen Bedürfnisse zu sorgen, in die Zelte und Baracken, welche seitwärts des Festplatzes aufgeschlagen sind, oder in eins der zahlreichen Wirtshäuser und Weinstuben, die in und vor Cannstatt liegen. Aber obgleich sich an diesem Tage eine so ungeheure Menschenmasse zusammenfindet, dass ein Speisewirt allein oft mehr als 20 000 Portionen Sauerkraut, das Leibgericht der Schwaben und Bayern, serviert, so ist doch nirgends Gedränge, nirgends Lärm. Analog dem heimatlichen Schooß seines thalreichen Landes ist die charakteristische Eigentümlichkeit des schwäbischen Volkes, sein gemütliches Wesen, und diese Gemütlichkeit ist der Grund seines einfachen, ruhigen, stillen Sinnes, der sich selbst in der Fröhlichkeit, welcher sich der Württemberger hingibt, nie verläugnet.
Otto von Reinsberg-Düringsfeld
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