Schaustellerei auf dem Wasen
Weltweit zählt das Cannstatter Volksfest zu den bedeutendsten Schaustellerfesten mit den interessantesten und spektakulärsten Fahrgeschäften. Der einstige Gründergedanke von König Wilhelm I. und Königin Katharina aus dem Jahr 1818, der rückständigen und darniederliegenden Landwirtschaft auf die Beine zu helfen ist – sieht man vom Landwirtschaftlichen Hauptfeste im vierjährigen Rhythmus ab – deutlich in den Hintergrund getreten.
Einziges Relikt, das an die Zeit erinnert, als Württemberg ein reines Agrarland war, ist die weithin sichtbare Fruchtsäule, die noch immer unverzichtbar zum Wasen gehört wie der Neckar zu Bad Cannstatt. Sicher ist im Stiftungsdekret angemerkt, dass für Abwechslungen gesorgt werde, die der „frohen Feier des Tages” entsprächen. Dieser „Jahrmarkts- und Kirbetrubel” fand allerdings außerhalb des so genannten „Volksfestovals” mit seinen Ehrentribünen und dem Königspavillon statt.
Während der offizielle Teil in Gegenwart des „Geburtstagskindes” Wilhelm I. am 28. September (dem Tag nach dem Geburtstag am 27.) gefeiert wurde, waren die Festwirte und Schausteller nicht termingebunden. Es wäre ja durch nichts zu entschuldigen gewesen, hätte man die zahlreichen Zuschauer aus der Oberamtsstadt bei ihrer anstrengenden Tätigkeit als Beobachter beim Tribünenaufbau nicht „geatzt“ und „getränkt“.
Seiltänzer, Spaßmacher und die stärksten Männer waren die Attraktionen im Gründerjahrhundert. |
Volksbelustigungen auf dem Cannstatter Volksfest 1844 |
Als sich dann nach dem eigentlichen Festtag das Interesse verlor, wurden kurz und bündig die Zelte wieder abgebrochen. Im Grunde genommen waren es zwei Feste nebeneinander, wobei sich im Laufe der Geschichte das Rahmenprogramm zum Mittelpunkt entwickeln sollte.
Die Russische Schaukel
Die Vergnügungen hielten sich – aus heutiger Sicht – zunächst in bescheidenen Grenzen. Schiffsschaukeln, Kletterbaum und Glücksspiele, so genannte Scholdertische sowie Kasperletheater und Seiltänzer waren für einige Jahrzehnte das Maß des Vergnügens. Das erste Karussell an des Neckars Ufer war, will man dem „Amts- und Intelligenzblatt für das Oberamt Cannstatt glauben, 1858 auf dem Wasen zu bestaunen, doch warnt bei dieser Gelegenheit der Schreiber davor, dass damit das „kindliche Vergnügen” verloren gehe. Wie dieses Lustgefährt aussah, ist nicht überliefert. Doch erst einmal begonnen, ließ sich der „Hochfahrgeschäft- Fortschritt” nicht mehr aufhalten. Schon drei Jahre später wird in der Presse von einer Neuheit berichtet, von einer „Russischen Schaukel”, die für die damaligen Zeitgenossen geradezu atemberaubend gewesen sein muss.
Volksfestkarussell der Familie Stamer um 1900 auf dem Cannstatter Wasen |
Während der Fahrt wurde mittels einer Haspel die Gondel in die Höhe bewegt. Eine Konstruktion also, die ein Zwischending von Karussell und Riesenrad war. Eine solche Luftfahrt hätte dem Menschen unheimlich werden können, heißt es in der zeitgenössischen Schilderung. Aber dafür, so fügt der damalige Zeitzeuge an, sei der Blick über den Festplatz mit seinem Getümmel „begeisternd” gewesen. In der damaligen Frühzeit ohne Elektrizität und Motoren waren dem Fortschritt enge Grenzen gesetzt. Ein kleines nostalgisches Relikt aus der „guten alten Zeit”, vor dem Zweiten Weltkrieg, war das Kinderkarussell, unweit der alten König-Karl-Brücke, das von jungen Kerlen durch deren Muskelkraft in rotierende Bewegung versetzt wurde. Eine anschließende Freifahrt war der Lohn.
Daimlers „Teufelskärrele”
Der Einsatz von Elektrizität und Motorkraft brachte für das Schaustellergewerbe ganz neue Aspekte. Zu den Pionieren gehörte Gottlieb Daimler. 1887 ließ er vom Kursaal aus durch die König-Karl-Straße eine „neuartige” Straßenbahn – ohne Pferde, aber auch ohne Lokomotive – zum Wilhelmsplatz fahren, wo notgedrungen mangels Brücke Endstation für den „Nahverkehrs- Zubringer” war.
In der Erfindung weiterer Verwendungsmöglichkeiten für sein Produkt „Motor” war Gottlieb Daimler von beneidenswerter Fantasie. Bei der Präsentation seiner Motorfahrzeuge war zunächst die Angst der Bevölkerung größer als das Interesse daran. Bekanntlich schlug er den Umweg über das Motorboot ein. Schließlich „ko er em Wasser uff em Necker ruhig en d’Luft fliaga”. Schon 1893 richtete Daimler einen Linienverkehr zwischen dem Berger und dem Cannstatter Ufer ein. Zeitgenössische Exponate dieser originellen Konstruktionen sind im Daimler-Museum in Untertürkheim zu bestaunen. Während Motorboote heute gang und gäbe sind, entschied sich die damalige Pferdebahn stattdessen für den elektrischen Antrieb.
Schnurranten häufige Gäste in den Wirtschaftszelten, 1844 |
Technische Entwicklung nicht mehr aufzuhalten
Daimlers Erfindung, das Automobil, wurde in der Folge zum beliebtesten „technischen Spielzeug” auf dem Volksfest. Das inzwischen doch reichlich antiquierte Karussell trat zunehmend etwas in den Hintergrund. So heißt es beispielsweise, dass 1905 zwölf neue Hochfahrgeschäfte auf dem Wasen zu bestaunen gewesen seien und weiter: Die Karussells haben durch die neu aufgekommenen Auto-Skooter gefährliche Konkurrenz bekommen.
„Momentaufnahmen” im Automobil
Etwa zur gleichen Zeit machte eine andere technische Erfindung von sich Reden: der Zeppelin. Familienfotos in der Gondel waren der letzte Schrei. Fahrten in den Zeppelinkarussells hatten bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges etwas Majestätisches. Die Katastrophe von Echterdingen beflügelte sogar diesen Trend. Diese Hochstimmung wurde durch sensationell aufgemachte Zeitungsberichte noch weiter angefeuert. Doch trotz aller Fortschrittseuphorie und Technikgläubigkeit wird im Jahr 1910 vor den Attraktionen, „die ins Gigantische gehen”, gewarnt. Ein Besuch heute auf dem Volksfest zeigt aber, dass es ein vergeblicher Ruf in der Wüste war.
Immer höher, immer schneller
Nach dem Ersten Weltkrieg mit all seinen Umbrüchen und Neuorientierungen hieß die Devise zunehmend „immer höher – immer schneller”, bis in die 1920er Jahre. So beklagten 1927 besorgte Kinderfreunde, dass es „nur noch einige Kinder-Karussells” gebe. Es war tatsächlich ein Hilferuf, wenn man zwei Jahre später in der Untertürkheimer Zeitung liest, dass das Fahrgeschäft „The Whips” den Fahrgästen die Eingeweide „nach allen Regeln der Kunst” durcheinander wirble. Die Aufzählung der Fahrgeschäfte, der Rutschbahnen und Karussells würde in diesem Zusammenhang zu weit führen. Doch an zwei Sensationen soll noch erinnert werden: an die riesige Gesamtanlage 1936 anlässlich des Jubiläums „100 Jahre Deutsche Eisenbahn”, eine Nachbildung des historischen Bahnhofs 1845 in Nürnberg, und an die Himalajabahn. Sie war etwa auf Höhe des Berger Stegs ausgebaut gewesen für das Volksfest im Jahre 1939. Diese riesige Holzkonstruktion war während des Zweiten Weltkrieges gegen Flugzeuge getarnt, starb aber 1945 eines ganz natürlichen Todes: Sie fiel den Sägen der frierenden Bevölkerung zum Opfer. Doch zur Ehrenrettung: Die Holzkonstruktion war wetterbedingt teilweise schon morsch geworden.
Der Freifallturm – aus fünfzig Metern Höhe im freien Fall die Schwerelosigkeit spüren |
Mit dem „Russischen Karussell” hat es 1861 begonnen. Heute, fast einhundertfünfzig Jahre später, ist die technische Entwicklung immer noch nicht zu Ende. Eine alte Schaustellerweisheit stimmt aber immer noch: „Es muss etwas ganz anderes sein – technisch und äußerlich.“
von Hans Otto Stroheker
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